Ein Nachbericht zum Louis Braille Festival
„Wir haben gezeigt, was alles geht“
Marburg/Berlin, 4. Juli 2016 Am Sonntag ist in Marburg das dreitägige Louis Braille Festival zu Ende gegangen. Die Veranstaltung wurde ausgerichtet vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) und der Deutschen Blindenstudienanstalt (blista). Beim größten Zusammentreffen blinder und sehbehinderter Menschen in Europa hatten mehr als 3.500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Wahl zwischen 76 Einzelveranstaltungen – von der Tanzperformance für nichtsehende Zuschauer über den Schmink-Workshop bis zur „Ultimativen Samstagabendshow“ mit Moderator Alexander Mazza. Parallel standen zahlreiche blindengerechte Sportangebote auf dem Programm, wie beispielsweise Klettern, Schießen und Kanufahren, dazu Aktionen zum Mitmachen, der „Markt der Begegnung“, das „Spiel ohne Grenzen“, Ausstellungen und vieles mehr. Auch die Vierbeiner kamen nicht zu kurz – sie wurden in einer Führhundlounge verwöhnt.
„Einen schöneren Anlass, für einen Stau zu sorgen, kann ich mir nicht vorstellen“, sagte der Marburger Bürgermeister Dr. Franz Kahle bei der Eröffnung im Georg-Gaßmann-Stadion. Zuvor war er in einem Korso von 50 Tandems durch die abgesperrten Straßen der Marburger Innenstadt gefahren. Als Tandempilot ist Kahle ein Naturtalent, wie seine Mitfahrerin, die Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele, ihm bescheinigte.
Der Korso mit anschließender Einfahrt ins Stadion war der Höhepunkt einer Tandem-Sternfahrt unter dem Motto „Gemeinsam geht alles!“ Als die bayerische Behindertenbeauftragte Irmgard Badura zum ersten Mal davon hörte, war sie spontan begeistert von diesem Projekt und gern bereit, es durch ihre Teilnahme zu unterstützen. Die Fahrt im Korso konnte sie in vollen Zügen genießen: „Wir sind wirklich wunderbar geradelt, an der Lahn entlang, durch Wiesen und sommerliche Düfte. In Marburg hat uns die Polizei die Straßen freigehalten und das macht einfach Spaß, wenn man mit voller Kraft über die Kreuzung düsen kann und weiß, man ist sicher.“
Am Freitagnachmittag startete das Programm. Oliver Dietrich ist sehbehindert und war mit seiner blinden Freundin Daniela unterwegs. Beim Festival erfüllte er sich einen lang gehegten Wunsch: „Ich hab als Kind mal surfen lernen wollen, ich hab auch ein Surfbrett gehabt, konnte es aber nicht machen wegen der Erkrankung.“ Am Anfang stand die „Trockenübung“ unter fachkundiger Anleitung auf einem Surf-Simulator. Im Anschluss ging es dann hinein in einen zwölfeinhalb Meter langen Pool und Oliver kletterte auf ein echtes Surfbrett. „Ich habe leichte Koordinationsprobleme, deshalb fällt es mir etwas schwerer mit dem Surfen, aber dann habe ich mir gedacht, was soll’s, dafür ist man hier, zum Ausprobieren!“
Im Georg-Gaßmann-Stadion waren umfangreiche Vorarbeiten nötig. Um den Gästen die Orientierung auf dem sechs Hektar großen Gelände zu erleichtern, verarbeitete das Festival-Team dreieinhalb Tonnen Materialien zu einem Leitsystem. Vorab hatte bereits die Stadt Marburg alle Stufenkanten mit kontrastreichen Anstrichen versehen. Für die Absicherung von Gefahrenstellen wurden stabile Zäune mit einer Gesamtlänge von 300 Metern aufgestellt. Rund 150 Helfer unterstützten die Mobilität der Gäste, 70 weitere waren hinter den Kulissen und im Festivalbüro aktiv. Irmgard Badura findet, dass sich der Aufwand definitiv gelohnt hat: „Hier muss ich mich als fast blinde Frau nicht erklären, hier bin ich der Normalfall. Das ist wie eine barrierefreie Oase für mich!“
Die blista feiert in diesem Jahr ihr hundertjähriges Bestehen. Direktor des bundesweiten Kompetenzzentrums für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung ist Claus Duncker. Er freut sich, dass zum Festival-Wochenende auch viele ehemalige Schülerinnen und Schüler nach Marburg kamen. Am Freitagabend stand die blista auf der zentralen Festival-Bühne im Mittelpunkt einer bunten Revue unter dem Motto „100 Jahre – 100 Talente“.
„Dieser Titel bringt für mich auf den Punkt, was die blista ausmacht“, sagt Claus Duncker. „Von hier aus sind immer wieder Menschen aufgebrochen, die das gelebt haben, was sie an Talenten besitzen. Und genau das muss doch das Ziel von Bildung sein.“
Am Samstagabend verabschiedete sich das Festival vom Georg-Gaßmann-Stadion und wurde am Sonntag in der Stadt Marburg fortgesetzt. Unter anderem fand in der bis auf den letzten Platz gefüllten Elisabethkirche ein Gottesdienst statt, der von blinden und sehbehinderten Menschen gestaltet wurde. Die Veranstaltung wurde organisiert vom Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), der gemeinsam mit der blista sein einhundertjähriges Jubiläum feiert.
DBSV-Präsidentin Renate Reymann zieht Bilanz: „Wir haben blinde und sehbehinderte Menschen eingeladen, das Festival aktiv mitzugestalten. So konnten wir eine große Vielfalt kultureller und sportlicher Möglichkeiten präsentieren, die ich außerordentlich beeindruckend fand. Wir haben gezeigt, was alles geht, und viele Teilnehmer haben mir bestätigt, wieviel Energie sie nun mit nach Hause nehmen.“
Das Louis Braille Festival 2016 wurde von der Aktion Mensch gefördert. Hauptsponsoren waren Vanda Pharmaceuticals und Second Sight Medical Products.
Weitere Sponsoren und Förderer waren die Universitätsstadt Marburg, Novartis, die Paul und Charlotte Kniese-Stiftung, das Berufsförderungswerk Mainz, die Dr. Georg-Blindenstiftung und die Hamburger Blindenstiftung.
Quelle: Pressemitteilung des DBSV
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