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Stoßen Sie beim Schwimmen mit dem Kopf an? Bericht über einen Schulbesuch

„Stoßen Sie beim Schwimmen mit dem Kopf an?“

 

Aus dem Magazin „Gegenwart“, Juni 2012

Kinder fragen Erwachsenen gerne Löcher in den Bauch. Da hilft nur eines: antworten. Das können blinde und sehbehinderte Menschen besonders gut, wenn es um das Leben mit einer Seheinschränkung geht. Reinhard Christ aus Borken in Westfalen hat bei der Schulaktion zum100-jährigen Jubiläum des DBSV mitgemacht. Für die „Gegenwart“ erzählt er, wie er zum ersten Mal in seinem Leben vor einer Grundschulklasse stand.

Wenn ich allein mit meinem Langstock unterwegs bin, höre ich oft Kinderfragen: Was ist denn das für ein Mann? Die Frage richtet sich in der Regel nicht an mich, sondern an die Mutter, den Vater oder wer das Kind gerade begleitet. Bevor die Erwachsenen herumdrucksen, schalte ich mich manchmal ein und erkläre, dass ich blind bin und wie ich trotzdem gut durchs Leben komme. Meistens ergeben sich daraus sehr interessante Gespräche und die Kinder hören gar nicht mehr auf zu fragen.

Diese Begegnungen gingen mir wohl durch den Kopf, als sich Jochen Dargegen, der Vorsitzende unserer Bezirksgruppe Bocholt/Borken im Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen, Ende 2011 an uns Mitglieder wandte und um Unterstützung bei der Schulaktion zum 100-jährigen Jubiläum des DBSV bat (vgl. „Gegenwart“ 1/2012). Jedenfalls überlegte ich nicht lange, sondern sagte meine Mithilfe zu, obwohl ich noch nie vor einer Klasse gestanden hatte. Wenig später war mein Kalender schon um zwei Termine voller: Wir hatten ein Vorgespräch mit drei Lehrerinnen der Michael-Grundschule in Reken und vereinbarten, dass ich am 13. und 14. März über mein Leben mit der Blindheit berichten würde, jeweils zwei Schulstunden in drei vierten und einer dritten Klasse.

Allmählich wurde ich nervös. Wie sollte ich vorgehen? Was würde die Kinder interessieren? Und wie würden sie reagieren? Nachdem ich den Leitfaden des DBSV studiert und mich noch einmal mit Jochen Dargegen ausgetauscht hatte, der bereits Erfahrungen mit Schulbesuchen gesammelt hatte, war klar: Nach einer kurzen Vorstellung und Informationen über meine Augenerkrankung wollte ich meinen Tagesablauf schildern und einige Hilfsmittel vorführen, die mein Leben erleichtern. Alles andere würde sich hoffentlich ergeben.

Als meine Frau und ich in der Schule ankamen, ging es überraschend schnell zur Sache. „Herr Christ, können Sie die erste Klasse allein machen?“, fragte die Schulleiterin. „Eine Lehrerin ist erkrankt. Die Kinder sind sehr lieb. Ich schau auch zwischendurch mal rein.“ Meine Frau meinte: „Klar, das schaffen wir schon.“ Ich war nicht ganz so überzeugt. Aber dann ging es auch schon los.

In einer der vierten Klassen erzählte ich, dass ich seit 14 Jahren allmählich blind geworden bin und seit drei Jahren auf beiden Augen seitlich nur noch einen winzig kleinen Sehrest habe. Dann schilderte ich meinen Tagesablauf, wie morgens der Wecker klingelt, wie ich aufstehe, mich anziehe, Tee koche, meine Zähne putze. Das Alltägliche interessierte die Kinder am meisten. Ich zeigte ihnen meinen sprechenden Wecker, einen Kurzzeitmesser, meine Armbanduhren (sprechend und taktil). Die sprechende Waage war so spannend, dass sich viele Kinder wiegen wollten. Zwischendurch kamen immer wieder Fragen: Was sehen Sie? Ist alles schwarz? Können Sie Bewegungen erkennen? Wie gehen Sie über die Straße? Was machen Sie an der Ampel? Stoßen Sie beim Schwimmen mit dem Kopf an?

Als ich meinen DAISY-Player hervorholte und meine Hörgeschwindigkeit auf Stufe 4 einstellte, gab es großes Gelächter. Dass es geübte Menschen gibt, die die Sprache sogar noch auf Stufe 8 verstehen, konnten die Kleinen kaum glauben. Bei der Brailleschrift war ich mir nicht ganz so sicher, ob das etwas für Grundschüler sein würde. Doch ich hatte mich getäuscht. Mit Hilfe eines Braille-Alphabets entzifferten die Kinder ruckzuck die vorgegebene Frage: „Wie geht es dir?“. Auch die Reliefbilder mit Blumen, die ich besorgt hatte, flogen nur so durch die Reihen.

Aus eigener Erfahrung als Sehender kenne ich die Berührungsängste, die man gegenüber behinderten Menschen hat. Umso wichtiger war es mir, den Kindern zu zeigen, wie man jemanden begrüßt oder führt, der nicht sehen kann. Und fürs Radfahren gab ich den Tipp, frühzeitig zu klingeln oder„Hallo“ zu rufen – nicht erst, wenn man auf Höhe des blinden Fußgängers ist, weil der sich sonst sehr erschreckt. Zum krönenden Abschluss durfte jedes Kind einen Selbstversuch machen und mit Augenbinde und Langstock eine Runde durch die Klasse drehen.

Am zweiten Tag war ich schon deutlich entspannter. So hat es mich auch nicht aus dem Konzept gebracht, dass ein Zeitungsreporter dabei war. Und als wir schließlich nach insgesamt acht Unterrichtsstunden die Schule verließen, kamen ein paar Kinder über den Schulhof gelaufen und riefen: „Auf Wiedersehen, Herr Christ! Wir haben abgestimmt: Sie müssen wiederkommen!“

Reinhard Christ (69) ist aufgrund eines Glaukoms erblindet. Der pensionierte Technische Zeichner hat eine Tochter und zwei Enkelkinder und lebt mit seiner Frau in Borken.

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