Auch wer sieht, kann dennoch blind sein
Auch wer sieht, kann dennoch blind sein
Aus dem Magazin „Gegenwart“, Rubrik „unterwegs“,
von Jochen Dargegen
Es war an einem sonnigen Herbsttag 2005 am Königsee im Berchtesgadener Land. Der Touristenweg zum Königseee war gesäumt mit unterschiedlichsten Verkaufsständen vom Sepplhut bis zur Schweinshaxe. Unterschiedliche laute Geräusche von bayrischer Blasmusik bis zu Verkaufsangeboten verunsicherten mich als Vollblinden doch ein wenig und ich hakte am Arm meiner Frau unter. Dann hatte auch meine Frau etwas entdeckt und ließ mich kurz allein stehen. Das marktschreierische Angebot einer Verkäuferin von Brillenpuztztüchern erweckte meine Aufmerksamkeit und ich drehte mich in die entsprechende Richtung. Ich hörte die Worte: „Mein Herr, wollen auch Sie einmal unser Brillenputztuch versuchen?“. ALs Nichtsehender Fühlte ich mich natürlich nicht angesprochen, zumal ich ja meinen weißen Stock in der Hand hielt. Aber dieselben Worte der Verkäuferin hörte ich ein zweites Mal und ich reagierte mit der Frage: „Meinen sie mich?“ „Ja,“ kam es zurück, „geben Sie mir mal Ihre Brille.“ „Das hilft nicht“, sagte ich, „ihr Brillenputztuch vermag hier auch nichts auszurichten.“ „Wissen Sie ja gar nicht,“ antwortete die Verkäuferin streitbar. Ich nahm die Kampfansage an und sagte: „Ich wette, dass ich hinterher nicht besser sehen kann als vorher.“ Die Verkäuferin war von ihrem Produkt total überzeugt und wollte meine Brille mit dem Tuch säubern. Meine Frau, inzwischen zurückgekehrt, schaltete sich ein und wies darauf hin, dass das wirklich keinen Sinn habe, doch die Verkäuferin beharrte: „das wissen Sie doch auch nicht.“ Da verlor meine Frau die Geduld und sagte etwas barsch: „das weiß ich wohl, das ist mein Mann und der ist blind,“ und zeigte deutlich auf den weißen Stock. Schlagartig war sämtlicher Tatendrang der Verkäuferin verflogen, sie sank in sich zusammen und bekam einen hochroten Kopf. Sie entschuldigte sich tausendmal bei mir, selbst so „blind“ gewesen zu sein und den weißen Stock nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Herzliches Lachen meinerseits entspannte dann die Situation, dennoch ließ ich eine kopfschüttelnde, leicht verunsicherte Verkäuferin zurück.